Kapitel 15: Kulturelle Vielfalt

Wer ist ein Türke?1

Sinasi Dikmen ist 1945 in Ladik/Samsun in der Türkei geboren.2 Er besuchte in der Heimat eine Berufsschule für Gesundheitswesen.3 Er arbeitete vier Jahre als Gesundheitsberater in der Türkei.4 Dikmen lebt seit 1972 in der BRD.5 Dort arbeitete er zunächst als Fachkrankenpfleger auf der chirurgischen Intensivstation der Universitäts-Kliniken Ulm.6 Heute ist er freier Schriftsteller.7

In der folgenden Anekdote schreibt Dikmen mit Humor über ein ernstes soziales Thema.8 Als Ausländer, der wegen seiner Nationalität nicht überall akzeptiert wird, muss er sich fragen, was es denn bedeutet, ein Türke in Deutschland zu sein.9

Wer ist ein Türke?10 Wie erkennt man ihn, woher weiß man, ob jemand ein Türke ist?11 Diese Fragen beschäftigen mich, seit ich in Deutschland bin.12(...) Viele glauben, ein Türke sei der, der einen schwarzen Schnurrbart und einen türkischen Pass hat.13 Es gibt in Europa aber viele Türken, die keinen türkischen Pass haben, darunter sogar etliche, denen gar der Schnurrbart fehlt.14 Nichtsdestoweniger sind es Türken, denn sie sprechen Türkisch.15 Viele von ihnen sprechen aber auch Deutsch.16 Sind es darum Deutsche?17(...)

Ich bin in der Türkei geboren, mit türkischer Erziehung aufgewachsen.18 Meine Eltern sind Türken wie meine Geschwister und meine Verwandten.19 Ich habe die türkische Schule besucht, als türkischer Gastarbeiter bin ich nach Deutschland gekommen, als Türke habe ich mich beim Ausländeramt gemeldet.20 Meine Krankenversicherung, meine Rente und meine Autoversicherung laufen unter der Nationalität “Türke” und ich spreche mit meinen Kindern, soweit es möglich ist, zu Hause Türkisch, ich liebe türkisch, ich hasse türkisch, ich esse türkisch (...) und ich glaubte fest daran, dass ich ein Türke sei - bis mir dieser Vorfall passierte.21

Vor zwei Jahren nahm ich an einer Lesung in Hameln teil und stieg in Hannover in den Zug Richtung Ulm.22 Es war eine gute Lesung in Hameln.23 Das Publikum war nett, wir unterhielten uns angenehm, diskutierten über die Situation der Türken und über die Deutschen, über Gott und die Welt.24 Nach der Lesung gingen wir in ein griechisches Lokal, wo wir fast türkisch aßen.25 Am nächsten Tag wurde ich von einer Dame bis zum Bahnhof in Hannover gefahren.26 Ich betrat ein Abteil, in dem nur ein älteres Ehepaar saß.27 Ich fragte sie höflich, ob ein Platz frei sei, und sie antworteten höflich, ja, bitte;28 ich setzte mich hin, schlug “Die Zeit” auf und tat, was in Deutschland bei einer solchen Fahrt verlangt wird, nämlich schweigen, schweigen, schweigen, nie etwas fragen, solange du selbst nicht gefragt wirst.29 (...)

Ich (...) las weiter “Die Zeit”, stellte niemandem Fragen, wurde auch nichts gefragt.30(...) In Fulda stieg ein richtiger Türke zu, fragte das Ehepaar kurz und knapp:31 “Frei?”32 Bevor er ausgesprochen hatte, schrie die Dame schon:33 “Nein, nichts frei!”34 Der Türke, klein, gedrungen, mit handgestrickter Weste, grün, ich würde sagen, Türkengrün, in beiden Händen Plastiktüten, ging nach dieser barschen Antwort weiter.35

Ich schaute ihn an, er schaute mich an, so als frage er, hier sind doch drei Plätze frei;36 ich hatte das alles nicht richtig mitbekommen, so schnell ging es.37 Der Zug war, soviel ich sehen konnte, voll.38 Der Türke stellte sich genau vor unsere Tür - wie zum Trotz.39 Ich fragte die Dame: “Hier sind doch noch drei Plätze frei.40 Warum sagten Sie dem Mann, dass nichts frei sei?”41 Wie stets, wenn Deutsche sich gegenseitig taxieren, antwortete die Dame mit einer Stimme, die zwar höflich war, aber vom Gesprächspartner Abstand verlangte, dass sie mit so einem Typen nicht zusammen in einem Abteil fahren möchte.42

Ich hakte nach:43 “Was meinen Sie mit Typen?44 Mit einem türkischen Typen?45 Woher wissen Sie, dass er ein Türke ist?”46 “Das merkt man doch gleich”, antwortete sie, ich solle mal richtig hinschauen, dieser finstere Blick und diese Arroganz.47 Ich erwiderte: “Der Mann hat doch nur höflich gefragt.”48 “Das meinen Sie! Ich aber kenne diese Türkenblicke!”49 Nein, ich könne von der Dame nicht verlangen, dass sie sich die Fahrt durch die Anwesenheit eines Türken verderbe.50 Sie möchte auf keinen Fall mit einem Türken im Abteil sitzen.51 Ich ließ nicht locker: “Sie fahren aber mit einem Türken im Abteil.”52 “Nein“, sagte sie, “nein, der ist mein Mann, ich fahre nicht und ich werde auch nicht fahren.”53 “Doch, Sie fahren mit einem Türken, und zwar mit mir!54“ Sie wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte.55 Sie schaute ihren Mann an, bat ihn um Hilfe, aber der verlor kein Wort, er kontrollierte seine Fußspitze, tat so, als höre er nichts.56(...)

“Ich bin aber Türke, und Sie fahren leider mit einem Türken zusammen.”57 “Sie können doch kein Türke sein.”58 “Warum nicht?”59 “Nur so.”60 “Ich bin Türke, soll ich Ihnen meinen Pass zeigen?”61 “Das brauchen Sie nicht, weil Sie kein Türke sind.”62 “Warum sind Sie so sicher?”63Erstens, ja, hmm, erstens, ich weiß nicht, aber, hmm, Sie sind auf alle Fälle kein Türke.”64 “Warum nicht?”65 “Weil, hmm, weil, wie soll ich sagen, hmm, weil Sie ‘Die Zeit’ lesen.”66

Ich weiß nicht, wie viele “Zeit” -Leser es in Deutschland gibt, einhundert-, zweihundert-, drei-, vier-, fünfhunderttausend oder eine Million.67 In Deutschland leben 60 Millionen vermeintliche Deutsche.68 Da nicht alle “Die Zeit” lesen, denke ich, dass die Deutschen, die keine “Zeit” lesen, keine Deutschen sind, sondern Türken.69

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